Warum sind die Räder in den Mittelpunkt der Aerodynamik-Entwicklung gerückt?
Wäschle: Eigentlich stehen die Räder dem Wind nur im Weg. Beim Flugzeug werden sie deshalb einfach eingefahren. Das ist bei Pkw natürlich nicht möglich, eine Alternative wäre die Abdeckung. Aber solange wir die Räder als Design-Element zeigen, integrieren wir sie, so gut es geht, in den Radhäusern, damit möglichst wenig Luft direkt auf sie trifft. Das reicht aber nicht aus. Noch immer geht bei Serienfahrzeugen ungefähr ein Drittel des Luftwiderstands auf das Konto der Räder. Es lohnt sich also, Räder konsequent aerodynamisch zu optimieren.
Die Felgen sind dabei nur Teil eines komplexen Systems?
Arnold: Unter „Rad“ verstehen wir das Komplettrad, denn auch in den Reifen steckt großes aerodynamisches Potenzial. Bei der Optimierung der Radanströmung helfen zum Beispiel die Radspoiler – das sind die nach unten gerichteten Lippen an den Radläufen vor den Rädern. Die Radspoiler bekommen immer ausgefeiltere 3D-Geometrien. Die Kühlluft, die bei Verbrennern aus dem Motorraum in die vorderen Radhäuser strömt, spielt genauso eine Rolle wie die seitliche Strömung über den vorderen Stoßfänger und über die Türen und Längsträgerverkleidung an den Hinterrädern.
Und zu Ihrem Leidwesen gibt es ja nicht nur eine Rad-/Reifenkombination pro Baureihe, sondern viele individuelle Varianten für die Kunden.
Wäschle: Genau. Räder müssen nicht nur rollen, aerodynamisch und leise sein, wenig Rollwiderstand und viel Grip haben. Sie sind auch Schmuckstück und Individualisierungsmöglichkeit für unsere Kunden. Jede Radgeometrie liefert einen unterschiedlichen Beitrag zum Gesamtluftwiderstand. Das bedeutet: Nicht nur ein einziges Rad muss aerodynamisch optimal in seiner Fahrzeugumgebung arbeiten, sondern ganz unterschiedliche Raddesigns in verschieden Zollgrößen. Nicht genug: Mit jeder Radgröße kommt eine Vielzahl von Reifen unterschiedlicher Hersteller dazu. Und jeder wirkt aerodynamisch anders. Damit ist jeder Reifen und jedes Rad zertifizierungsrelevant und hat somit Einfluss auf den Verbrauch und die Reichweite. Da kann man als Aerodynamiker schon mal am Rad drehen!
In welchen Details steckt bei Rädern und Reifen das größte Aerodynamik-Potenzial?
Arnold: Auf der Reifenseite stellt die Breite den größten aerodynamischen Stellhebel dar. Mit abnehmender Reifenbreite lassen sich deutliche cW-Reduktionen erreichen. Zusätzlich lassen sich mit optimal gestalteten Reifenkonturen weitere Verbesserungen erzielen. Bei der aerodynamischen Bewertung der Räder achten wir besonders auf die Einhaltung des „Aerorings“, die Speichengestaltung und eine geringe Öffnungsfläche. Der Aeroring definiert den äußeren Bereich des Felgenkranzes und sollte einen geschlossenen Ring mit adäquater Breite darstellen. Und viele weitere aerodynamische Stellhebel bleiben natürlich unser Geheimnis…
Wie läuft die aerodynamische Räder-/Reifenentwicklung bei Mercedes-Benz ab?
Wäschle: Wir haben unser ganzes Wissen in einer baureihenübergreifenden „Querschnittsfunktion Räder/Reifen“ innerhalb der Aerodynamik gebündelt. Damit können wir das neueste Aero-Know-how zuverlässig in alle Baureihen tragen und sind zentrale Anlaufstelle für alle beteiligten Entwicklungsbereiche. Wir erarbeiten wissenschaftlich neue Aero-Potenziale und optimieren sowie automatisieren die aerodynamische Bewertung von Rädern und Reifen.
Wie eng ist die Zusammenarbeit mit anderen Bereichen wie zum Beispiel dem Design?
Wäschle: Im Schulterschluss mit Design und dem Räder-Reifen-Fachbereich haben wir viel erreicht, wovon die Elektrofahrzeuge auf unserer neuen Plattform profitieren. Mit viel Kreativität setzen unsere Design-Kollegen die erarbeiteten Aero-Richtlinien um, ohne die Optik darunter leiden zu lassen. Ein Kunststück, das mit viel Dialog in der Entwurfsphase gelingt. Mit dem Mut zu neuen konstruktiven Ideen konnten wir gemeinsam mit den Fachbereichskollegen den Zielkonflikt zwischen guter aerodynamischer Performance und dem Gewicht von Aerorädern auflösen.
Gensch: Für die experimentellen Untersuchungen müssen frühzeitig seriennahe Versuchsteile erstellt werden. Der Hardwareaufbau sieht dafür die Konstruktion und Herstellung von sogenannten Trägerrädern aus Aluminium vor, die möglichst viele verschiedene Raddesigns in Form von Inlays bzw. Blenden aus dem 3D-Drucker aufnehmen können. Von der Konstruktion über die Auslegung der Betriebsfestigkeit bis hin zur Hardware-Erstellung begleiten unsere eigenen Konstrukteure den kompletten Prozess. Die Fertigung der Blenden erfolgt mittels verschiedener 3D-Druckverfahren. Updates in den Raddesigns, die sowohl aerodynamisch als auch Design-motiviert sein können, lassen sich somit schnell und präzise für die Beurteilung am 1:1-Aerodynamikmodell darstellen.
Mercedes-Benz Group AG
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